Blog

Forum Wissenswerte: Neue Strukturen, neue Behandlungen? Krebsforschung und -versorgung in Berlin und Brandenburg

  • Rubrik Aus der Stiftung
  • Veröffentlichungsdatum 24.07.2023
Michael Scherer

Allein in Deutschland bekommen jedes Jahr eine halbe Million Menschen eine Krebs-Diagnose. Es gibt also kaum Menschen, die nicht indirekt oder direkt mit Krankheit konfrontiert sind. Während einige Krebsarten inzwischen gut behandelbar und die Heilungschancen entsprechend hoch sind, überlebt fast die Hälfte der Patient:innen die Krankheit nicht. Wissenschaftler:innen forschen intensiv an neuen Krebstherapien. Und auch die Strukturen, durch die die Forschungscommunity, Ärzt:innenschaft und Krebskranke miteinander verbunden sind, verändern sich gerade massiv.  Ein Bericht von Lena Petersen.

 Die Krebsforschung und -versorgung in Berlin-Brandenburg ist schon jetzt gut. Aber es gibt durchaus Luft nach oben. Diese Einschätzung teilen die Krebsforscherin Prof. Dr. Ulrike Stein vom Max-Dellbrück-Centrum für molekulare Medizin, der in Bad Liebenwerda niedergelassene Onkologe PD Dr. Stephan Kreher und der Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center, CCCC, Prof. Dr. Ulrich Keilholz.   

Ulrike Stein leitet beim Max-Dellbrück-Centrum die Gruppe für die Translationale Onkologie solider Tumore. Aus Sicht der Biochemikerin kann Deutschland in der Krebsforschung inzwischen sogar mit den USA mithalten. Dort hatte Ulrike Stein zwei Jahre am National Cancer Institute (NCI) in Fredrick, Maryland gearbeitet. Es folgten zahlreiche kürzere Forschungsaufenthalte. In den USA gebe es inzwischen nicht mehr viele Vorteile. „Was den Gruppenalltag [in Deutschland] allerdings unendlich erschwert, sind die kurzen Arbeitsverträge der Mitarbeiter,“ so Ulrike Stein. In der Regel sei der Vertrag einer/eines Postdocs auf fünf Jahre befristet. Das reiche bei Weitem nicht aus. Die Forschungsgruppe arbeite mit extrem spezialisierten Methoden. Wenn dann Kolleg:innen nach fünf Jahren gehen müssen, sei es schwierig innerhalb des Teams den Kenntnisstand auf dem hohen Level zu halten. Außerdem sei in den USA die Grundfinanzierung eine bessere als in Deutschland. Das erleichtere die Forschung in den Vereinigten Staaten etwas, da nicht für jede Idee Drittmittel eingeworben werden müssen, so Ulrike Stein.  

 Krebs-Impfstoffe – „teilweise ganz beeindruckend“   

Ulrich Keilholz ist inzwischen seit rund 40 Jahren in der Onkologie tätig. In dieser Zeit hat er die Entwicklung von ganz neuen Therapieformen begleitet und mitgestaltet. „Vor 40 Jahren […] fand ich die Chemotherapie ganz furchtbar“, so der Direktor des CCCC. Inzwischen habe sich die Chemotherapie stark verändert und verbessert. Trotzdem hat sich Ulrich Keilholz der Erforschung der Immuntherapie zugewandt. „25 Jahre lang hat sich kein Fortschritt gezeigt, bis wir endlich verstanden haben, dass das Immunsystem sehr effiziente Bremsen hat. Wir können das Immunsystem nicht stimulieren. Wir können das nur ganz gezielt beeinflussen“, erklärt er. Als großen Wendepunkt beschreibt der Onkologe die Entwicklung der Checkpoint-Inhibitoren. Diese Wirkstoffe sorgen dafür, dass das zuvor durch die Krebszellen gebremste Immunsystem seine volle Wirkung entfalten und die Krebszellen vernichten kann. „Seitdem können wir gerade Tumore, die besonders viele Mutationen haben, wie Melanom oder Lungenkarzinom, relativ gut immuntherapeutisch behandeln“, ordnet Keilholz die Art der Therapie ein. Der Begriff „Krebs-Impfstoff“ lässt vermuten, er werde schon vor der Erkrankung verabreicht. Mit diesem Missverständnis räumt der Onkologe auf: „Bei den Tumor-Impfstoffen geht es darum, das Immunsystem so zu erziehen, dass es vorhandene Tumoren angreift.“ Die ersten Substanzen, die BioNTech entwickelt habe, seien in der Charité auch schon in der klinischen Erprobung. „Teilweise ist es ganz beeindruckend, was man da sieht“, so Ulrich Keilholz.   

Molekulare Tumortherapien und frühe Metastasenerkennung  

Die Molekulare Tumortherapien kommen dagegen vor allem bei Krebsarten zum Einsatz, die man bereits gut versteht. „Das sind vor allem Krebsarten mit relativ wenig Mutationen. Die machen die Signalwege überschaubarer“, erläutert Keilholz. Diese biochemischen Signalwege verschiedener Botenstoffe gilt es durch die Therapie zu blockieren. Dadurch ist der Prozess der Zellteilung gestört und somit die unkontrollierte Verbreitung der Tumorzellen gebremst. Nun müssen die entwickelten Moleküle nach Ansicht des Onkologen stringent in frühen klinischen Studien getestet werden. „Wir müssen sehen, dass wir nicht den zweit- oder drittbesten [Wirkstoff] weiterentwickeln, sondern, dass wir wirklich die beste Substanz nehmen“, so das Ziel. Hier brauche es auch mehr pharmakologische Entwicklung.   

In diesem Forschungsbereich ist Ulrike Stein ein großer Durchbruch gelungen. Sie hat gemeinsam mit Kolleg:innen das Gen MACC1 entdeckt, das bei der Bildung von Metastasen eine zentrale Rolle spielt. Dieses Gen ist ein Schlüsselfaktor für Tumorwachstum und Metastasierung. „Wenn ich jetzt weiß, dass Sie das Gen hoch exprimieren, dann besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, eine Fernmetastase zu generieren. Das ist schlecht, weil Sie sehr wahrscheinlich daran versterben. Wenn ich das aber vorher weiß, dass Sie diese Metastase kriegen werden, und ich kann Ihnen das sagen, bevor Sie die Metastase entwickeln, […] dann können die Ärzte Sie behandeln“, fasst Ulrike Stein den Nutzen ihrer Entdeckung zusammen. Die Prognose zu kennen, ist also extrem wichtig. Ob jemand das Gen in sich trägt, lässt sich über das Blut erkennen. Ein entsprechender Bluttest befindet sich kurz vor der Marktreife. Auch Substanzen, die das Gen MACC1 blockieren können, hat Ulrike Stein mit Kolleg:innen ermittelt: Sogenannte Statine. Vielen ist die Substanz als Cholesterinsenker bereits bekannt. Die Medikamente sind also schon zugelassen und müssten nun umfunktioniert werden. „Sodass wir wirklich im Moment schon Mittel in der Hand haben, die wir relativ schnell einsetzen können“, erklärt Stein. Hierfür werden dringend klinische Studien benötigt. 

Stärkere Vernetzung mit der Peripherie nötig  

© Stephen Andrews/Unsplash

Auch Stephan Kreher hält zusätzliche klinische Studien für notwendig. Von ihnen könnten auch seine Patient:innen profitieren. Stephan Kreher führt in Bad Liebenwerda eine Hämatologisch-Onkologische Schwerpunktpraxis. Im Quartal behandelt er nach eigenen Angaben weit über tausend Patient:innen. „Etwa 1400 ungefähr. Es ist schon eine Menge. Ich bin da eine Einzelpraxis. Und es werden immer mehr Patienten“, schildert der Arzt seine aktuelle Arbeitsauslastung. Da es sich vor allem um ältere Patient:innen handle, seien sie im hohen Maße auf eine Behandlung nahe ihres Wohnortes angewiesen. Stephan Kreher fordert, dass seine Patient:innen die gleichen Chancen haben wie die in der Stadt. Der medizinische Fortschritt müsse in die Breite getragen werden. „Und das geht meiner Meinung nach nur durch Verknüpfung und Vernetzung“, erklärt er.   

Gerade in der Diagnostik arbeite er schon jetzt eng mit den medizinischen Zentren, wie zum Beispiel in Dresden, zusammen. Wesentlich sei dabei, dass die Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie nicht nur in eine Richtung laufe. „Ich glaube, es ist auch ganz wichtig, dass Erkenntnisse aus der Niederlassung dann auch wieder an die Zentren zurückgespiegelt werden, um (…) zu sehen was (…) jetzt mit den Patienten [passiert]. Wenn ich jetzt irgendein molekulares Target identifiziert habe und ein Patient bekommt eine spezifische, individualisierte Therapie, dann ist es natürlich auch wichtig zu wissen: Was passiert mit ihm? Wie spricht er an?“ Für eine verbesserte Zusammenarbeit sei es auch notwendig, technische Hürden in der Kommunikation abzubauen. Oft müssen Patient:inneninformationen per Mail oder Fax verschickt und dafür mühsam übertragen werden, anstatt dass alle auf die gleiche Software zurückgreifen. „Da, glaube ich, ist noch ein sehr großer Nachholbedarf in Deutschland, dass (…) die Verknüpfung und Vernetzung leichter, unbürokratischer und auch von der Technik her besser ist“, so Stephan Kreher.   

Hohe Erwartungen an das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen in Berlin  

Mehr klinische Studien, eine bessere Vernetzung, Krebstherapien, die noch zielgerichteter auf die Patient:innen zugeschnitten sind – all das soll nun durch das Nationale Zentrum für Tumorerkrankungen in Berlin, das NCT, erreicht werden. Das NCT wurde vor fast zwei Jahrzehnten in Heidelberg ins Leben gerufen. Seit einigen Jahren hat das onkologische Spitzenzentrum auch einen Standort in Dresden. Nun kommen vier weitere Standorte in Deutschland hinzu, darunter Berlin. Ziel ist es, dass durch die neuen bundesweiten Strukturen, Forschung und Behandlung enger zusammenrücken. Die Grundlagenforschung bringe stetig neue Ansätze hervor, die in der Klinik getestet werden müssen, sagt Ulrich Keilholz. „Und diese frühe Testung ist das, was das NCT maßgeblich fördern wird, um wirklich alle Strömungen aufzunehmen und zu evaluieren. Und dazu gehört eben, dass man sehr genau weiß, welche Patienten könnten profitieren von einem neuen Behandlungsprinzip oder von einem neuen Wirkstoff.“ Rund 400 Studien seien in den nächsten fünf Jahren im Rahmen des NCT geplant. Dabei solle auch mit niedergelassenen Ärzt:innen zusammengearbeitet werden. Der Onkologe Stephen Kreher bewertet das Interesse seiner Patient:innen an klinischen Studien teilzunehmen als hoch. Allerdings hänge die Möglichkeit der Teilnahme auch immer vom Allgemeinzustand der Patient:innen ab. Am Ende der klinischen Entwicklung solle dann die Zulassung neuer Medikamente und Standardtherapien stehen, erklärt Ulrich Keilholz. Allerdings will er nicht nur diejenigen in den Blick nehmen, die bereits mit einer Krebserkrankung leben. „Mit den heutigen Therapien wollen wir früher rein. […] Wir wollen letztendlich Metastasierung verhindern oder vielleicht sogar Vorstufen von Krebs so beeinflussen, dass kein Krebs entsteht“, so der Direktor des CCCC.  

Das Gespräch führte Lena Petersen, Wissenschaftsredakteurin beim rbb24 Inforadio  

Referent:innen: 

  • Prof. Dr. Ulrich Keilholz  
    Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center
    Koordinator des Nationale Centrum für Tumorerkrankungen, NCT, in Berlin  
  • PD Dr. Stephan Kreher  
    Niedergelassener Arzt einer Hämatologisch-Onkologische Schwerpunktpraxis in Bad Liebenwerda   

  • Prof. Dr. Ulrike Stein   
    Gruppenleiterin für die Translationale Onkologie solider Tumore beim Max-Dellbrück-Centrum für molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft    

Das Forum Wissenswerte ist eine gemeinsame Veranstaltung der Technologiestiftung Berlin und rbb24 Inforadio.  Die Sendung finden zum Nachhören im rbb24 Inforadio und in der ARD Audiothek.  

Forum Wissenswerte

Die Veranstaltungsreihe zu aktuellen Technologiethemen. In Kooperation mit rbb24 Inforadio.